Kairo im Winter, Januar 2011. Die Proteste, sie haben nichts zu tun mit dem, was man so kennt aus dem Prospekt: Pyramiden von Gizeh, eine Kreuzfahrt auf dem Nil. Geschätzt 25 Millionen Menschen leben in der Metropolregion. Und vielen Demos vor und nach dem Sturze Mubaraks. Von Christoph Borgans und Marc Röhlig…
Doch im Laufe Nacht und in den Morgenstunden kam es auf dem Tahrir-Platz zu gewaltsamen Zusammenstößen, Demonstranten mit Militär und Polizei. Beide Seiten haben viel zu verlieren. Bei gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Militärpolizei auf dem Tahrir-Platz gab es Tote und Verletzte.
Das Militär begann um 2.30 Uhr, eine halbe Stunde nach der verhängten Ausgangssperre, die Demonstranten mit Warnschüssen zu vertreiben. Im Verlauf der Nacht spitzte sich die Lage weiter zu. Am Samstagmorgen sprachen die Demonstranten von vier Toten, darunter auch Kinder sowie ein Offizier des Militärs. Bis zum Nachmittag bestätigten Kairoer Ärzte drei Tote und mindestens 18 Verletzte.
Schon um Mitternacht meldeten Demonstranten besorgt per Twitter, dass sich Militär und Polizei in der Nähe des Tahrir-Platzes sammeln würden. Nordöstlich vom Tahrir-Platz hatte das Militär Panzer und Mannschaftswagen aufgefahren.
Gegen zwei Uhr umzingelte das Militär den Platz, um die Demonstrationen aufzulösen. Die Soldaten versuchten, zu einem Zelt auf dem Tahrir-Platz vorzudringen, in dem sich einige Offiziere aufhielten.
“Pflicht, Offiziere zu schützen, die ihr Leben in unsere Hände gelegt haben”
Diese hatten sich im Laufe des Tages solidarisch mit den Demonstranten erklärt und einen Gerichtprozess für Mubarak gefordert. Die Demonstranten bildeten eine Menschenkette, um den Zugriff des Militärs zu verhindern. “Es ist unsere Pflicht die Offiziere zu schützen, sie haben ihr Leben in unsere Hände gelegt”, forderten junge Aktivisten auf Facebook.
Sechs Offizieren soll nach Angaben der Demonstranten die Flucht gelungen sein, indem sie ihre Militärkleidung gegen zivile tauschten. Weitere 15 seien wieder aufgegriffen worden, berichten Augenzeugen.
Die Demonstration am gestrigen Freitag war die größte seit dem Sturz von Hosni Mubarak. Mehrere Zehntausende hatten sich ab dem Freitagsgebet auf dem Tahrir-Platz versammelt und gefordert Mubarak, aber auch führende Protagonisten der alten Machtelite vor Gericht zu stellen.
Das Militär solle entschiedener gegen die wegen Korruption, Amtsmissbrauch und Verbrechen beschuldigten Ex-Ministern und Entscheidungsträger vorgehen. Symbolisch dafür wurde auf dem Platz in einem Schauprozess eine Mubarak-Puppe aufgeknüpft.
Laut Anwohnern begann das Militär ab 2.30 Uhr mit minutenlangen Maschinengewehr-Salven die Menge auseinanderzutreiben. Dabei wurden Demonstranten verletzt und getötet. In den Straßen rund um den Tahrir-Platz sammelten sich immer wieder Demonstranten in kleinen Gruppen. Militärische Einheiten zerstreuten die Ansammlungen auch hier mit Gewehrschüssen.
Rund eine halbe Stunde nach dem Beginn des Angriffs schlossen sich Polizeikräfte dem Militär an. Laut den Demonstranten seien diese besonders brutal vorgegangen. Es entwickelten sich Straßenschlachten, in denen Steine geworfen und einige Fahrzeuge des Militärs von wütenden Demonstranten angezündet wurden. Sie berichteten, dass sie geschlagen und beschimpft worden seien. Auch Elektroschocker sollen zum Einsatz gekommen sein.
“Methoden wie am 28. Januar”
“Es sind die gleichen Methoden wie am 28. Januar”, ruft ein aufgebrachter Ägypter. Damals reagierte das Mubarak-Regime auf die noch jungen Proteste ebenfalls mit Waffengewalt, am 2. Februar stiftete es Kameltreiber gar an, durch die Massen zu reiten. Auch jetzt, so argwöhnen Aktivisten auf Twitter, sei die Gewalt-Eskalation von oben inszeniert.
Viele der Demonstranten, die erst nach Mitternacht zum Tahrir-Platz gekommen waren, seien bestellte Aufrührer, die dem Militär einen Vorwand zum Eingreifen bieten sollen. “Ich war bis Mitternacht am Platz, doch die Stimmung wurde mir zu seltsam: Immer mehr zwielichtige Gestalten mischten sich unter die Demonstranten”, berichtet ein Jugendlicher.
Der Oberste Militärrat rechtfertigte am Samstagmorgen in einem Kommuniqué, dass die Truppen seien lediglich “gegen aufrührerische Handlungen” vorgegangen seien. Die Ausgangssperre sei durchgesetzt worden, ohne dass es Opfer gab. Fotos von Christoph Borgans und Marc Röhlig:
Die Kämpfe dauerten an, bis sich Militär und Polizei um circa 5.30 Uhr zurückzogen. Die Stimmung auf dem Tahrir-Platz ist seitdem angespannt. Eine kleine Gruppe von rund 300 Demonstranten skandiert: “Das Volk will den Sturz des Regimes”. Das hat man auf dem Tahrir-Platz in den Wochen bis zum 11. Februar schon einmal gehört.
Aber der Slogan hat ein neues Ziel: Muhammad Hussein Tantawi. Der Vorsitzende des Obersten Rats der Streitkräfte, der aktuell die Amtsgeschäfte in Ägypten leitet, galt bei der Mehrheit des ägyptischen Volkes als sehr beliebt. Jetzt rufen die Demonstranten “Tantawi ist Mubarak” – sie sehen ihn als Verlängerung des alten Regimes.
Wer die Nacht auf dem Platz ausgeharrt hat, blieb auch bis zum nächsten Morgen. Neue Demonstranten kommen seitdem auf dem Tahrir-Platz hinzu. Um neun Uhr befanden sich bereits rund 3000 Menschen vor Ort, die die Schäden besahen, fotografierten und diskutieren.
Am Nachmittag sind es bereits doppelt so viele. Sie bereiten sich auf eine weitere lange Nacht vor. Straßensperren werden aus Stacheldraht und Teilen der abgebrannten Wagen errichtet, Pässe werden an allen Zugängen zum Platz kontrolliert. Ein Demonstrant gibt sich kämpferisch: “Militär und Polizei kommt hier nicht rein!”
Genau das muss aber die Militärführung, will sie die Kontrolle im Land nicht aus der Hand geben. Bis zur Samstagnacht ist der Tahrir-Platz von den Demonstranten bevölkert. In Sprechchören rufen sie “Wir werden nicht müde” und “Wir bleiben die ganzen Nacht”.
Löst das Militär bis zum Beginn der Ausgangssperre am Sonntagmorgen zwei Uhr den Platz nicht auf, hat es Autorität und Handlungsmöglichkeiten verspielt. Gibt es ein erneutes Blutvergießen, dürfte das jedoch die Kairoer zu mehr Protest anheizen. Beide Seiten wollen nun zeigen, wer den längeren Atem hat.
Was viele Ägypter vielleicht ahnten, wird ihnen seit der letzten Nacht auf dem Tahrir-Platz so klar wie nie zuvor in den vergangenen zwei Monaten: Ägyptens Revolution ist noch lange nicht vorbei. Sie beginnt gerade erst.
Kandierte Äpfel gibt es, Revolutionstassen und -hemden, Mädchen in Absatzschuhen machen Erinnerungsfotos und Mütter führen auch kurz vor Mitternacht noch ihre Kleinkinder auf den Platz. Die Ereignisse, die Ägypten seit Wochen auf Trab hält, können auch die Ägypter selbst kaum greifen.
Artikelbild: © Marc Röhlig
Logbuch| Für Marc Röhlig und Kollegen war es ein seltsames Gefühl, mitten im Herzen der Revolution zu stehen. Nicht wegen der Sprechchöre, den brennenden Autos oder der Blutflecken. Vielmehr noch faszinierte sie, das viele Kairoer den Tahrir-Platz als Jahrmarkt betrachteten…