Hape Kerkeling war dann mal weg. Wir sind es jetzt auch. Im wahrsten Sinne des Wortes wurde unsere Autorin Katrin Moser zum Mitläufer. Auf dem Camino de Santiago, dem Jakobsweg. Obwohl die Suche nach sich selbst, die Seele aus dem Leib zu laufen, „in“ ist, halten sie alle für verrückt. Ihr Tagebuch…

Gut, ich gebe zu: Den wichtigsten Schritt einer solchen Pilgertour habe ich übersprungen. Die Planung. Das ist dem Umstand geschuldet, dass ich eher spontan – also mit einer knappen Woche Vorlauf – loslaufe. Und der Tatsache, dass ich nicht alleine bin, sondern mich in der vermeintlichen Sicherheit einer 40-köpfigen Gruppe befinde.

Auch über das Gepäck mache ich mir keine Gedanken, denn das fährt mir im Bus hinterher. Auf dem Camino werden solche Leute gerne abfällig als „Samsonite-Pilger“ betitelt. Ich denke mir, dass ich wenigstens unterwegs bin.  Zumindest ein Stück weit. Und die paar Kilometer am Tag werden ja nicht so schwer sein…

Bereits seit zehn Jahren unterwegs

Anneke Hugenberg ist da bereits erfahrener. Die 17-Jährige aus Vechta ist bereits zum vierten Mal dabei, sie schloss sich der Gruppe um den Holdorfer Pfarrer Michael Kenkel 2008 an.

„Die Gruppe“, das ist ein bunter Haufen von Menschen zwischen 14 und 50 Jahren, die seit 2001 von Garrel aus in jährlichen Etappen nach Santiago de Compostela laufen. Manche sind bereits von Anfang an dabei, andere in Unterbrechungen oder erst seit kürzerer Zeit wie Anneke – und manche sind blutige Anfänger wie ich.

In meiner Naivität habe ich kurzerhand meine Jogging-Schuhe eingepackt, denn Trekking-Schuhe besitze ich nicht. Um ehrlich zu sein, sind die fünf Kilometer Joggen am Abend auch die längste Strecke, die ich bis dato am Stück gelaufen bin. Anneke schielt etwas skeptisch auf meine lila Schuhe, quittiert mein „In denen kann ich kilometerweit laufen“ mit einem vorsichtigen Nicken.

Und erzählt mir dann von den Blasen, die sie sich im vergangenen Jahr in ihren braunen, schweren Trekking-Schuhen gelaufen hat. „Trotzdem ist das Laufen für mich eine Auszeit vom Leben“, erzählt mir Anneke während der Fahrt. „Ich bekomme dadurch einen ganz neuen Blickwinkel auf die alltäglichen Dinge.“ Ich nicke brav und denke mir, dass ich das auch bei Hape lesen kann.

Nach 24 Stunden Busfahrt bis Puente Fitero und den ersten 18 Kilometern Fußweg erzähle ich meiner Mutter am Telefon im Brustton der Überzeugung, wie toll alles ist. Die kalten Duschen, das Schlafen unter freiem Himmel, die leichte Druckstelle an der Ferse. Meine erste Nacht auf dem Jakobsweg ist kalt, windig und von einem ersten leisen Zweifel geprägt.

Laufen, um sich selbst zu finden

Der zweite Tag ist der Horror. Ich hinke und humple der Gruppe hinterher, meine Schuhe sind eindeutig nicht eingelaufen, die Blasen bilden sich bei jedem Schritt an den Fersen, den Ballen und – ganz fies – den kleinen Zehen.

Außerdem drückt mir der linke Schuh in die Achillessehne und das sind bei jedem Schritt höllische Schmerzen. Für die spanische Gegend aus blühenden Sonnenblumenfeldern habe ich keinen Blick übrig. Nach der Mittagspause streiche ich die Segel und fahre mit dem Bus zur Unterkunft (mit warmen Duschen, Swimmingpool und 40 Betten in einem Raum) vor. Den Rest des Tages verbringe ich in frustriertem Grübeln.

Heute laufe ich durch. Mich hat der Ehrgeiz gepackt. Außerdem ist mein Geburtstag. Aufgeben ist nicht. Ich ziehe die Schuhe an und bereue meine Entschlossenheit direkt. Der Tag beginnt für mich am Ende der Gruppe – hinkend, versteht sich. Anneke ist irgendwo am Anfang der Gruppe, läuft in ihrem Tempo. Wenn mich jetzt jemand fragen würde, wo ich bin, könnte ich nur „In Spanien“ antworten.

Der Weg zu meinen Füßen ist grobkörnig und staubig, die Sonne knallt mir auf meine alte Kappe und bei jedem Schritt verfluche ich den Tag, an dem ich Michael Kenkel überschwänglich angerufen habe. Die Stunden zerfließen zäh, immer wieder wartet ein anderer Pilger auf mich, damit ich nicht alleine bleibe. Zwischendurch überholen uns andere Pilger, schwer bepackt und den Blick fest auf den braunen Weg gerichtet. Das „Buen Camino“, der traditionelle Pilgergruß, will mir nicht so recht über die Lippen.

Langsamkeit im Viertelstundentakt

Ein kurzer Energieschub am späten Vormittag katapultiert mich plötzlich vom Ende an die Spitze der Gruppe, direkt neben Anneke. Die ist etwas überrascht, zieht dann mit mir mit, nur um sich nach zwei Kilometern zurückfallen zu lassen. Meine Motivation und Energie hält bis Mittag. Dann führt der Weg über eine lange Hügelkette und im Viertelstundentakt verliere ich mein Tempo.

Die Gruppe überholt mich wieder, weit auseinandergezogen. Es dauert fast drei Stunden und ich bin wieder da, wo ich am Morgen gestartet bin: Am Ende. Diesmal allerdings auch körperlich und geistig. Da erklimmt man einen Hügel und was wartet dahinter? Ein weiterer Hügel. Und dahinter noch ein Hügel. Und noch einer. Und noch einer. Ich habe an diesem Tag 35 Kilometer hinter mir und bin den Tränen nahe.

Die Augen kleben am Ende des nächsten Hügelgipfels, denn von da aus müsste man das nächste Dorf sehen. Nichts. Also weiter zum nächsten Hügel. Nichts. Noch ein Hügel weiter. Nichts. In der Ferne zieht sich eine Autobahn durch die karge Landschaft. Meine Füße, meine Beine, mein Rücken, alles tut weh. Gleichzeitig pocht die pure Verzweiflung hinter meiner Stirn. Anneke hat von diesem Punkt erzählt.

„Irgendwann bist du an der Grenze“

So, dass es nicht mehr weiter geht. Du heulst und willst nur noch aufhören. Du glaubst, es gibt nichts Schlimmeres auf der Welt als diesen Weg.“ Ich fand auch da, dass das verdächtig nach Hape klingt.

Vor mir bricht eine Pilgerin in Tränen aus. Die durchtrainierte Marathonläuferin steht am Wegesrand und ist am Ende: „Ich kann nicht mehr. Immer nur Laufen und Laufen, wir werden doch nie ankommen.“ Ihr Freund steht hilflos daneben. Wir schleppen uns gemeinsam weiter. Und dann, wie von Geisterhand, taucht das Dorf auf. Die Unterkunft. Wir sind angekommen, nach 42 Kilometern. Die Blasen an meinen Füßen sind blutunterlaufen, und so groß wie 2-Euro-Stücke. Aber ich bin angekommen. Und darum geht es doch.

Am nächsten Tag erreichen wir León. Anneke und ich plündern erst mal die Apotheke auf der Suche nach Blasenpflastern und Voltaren. Aber irgendwie läuft es sich nach dem Horrortrip besser. Meine Schuhe hassen mich immer noch, doch zwischenzeitlich kann ich damit leben. Mit Duschen am Rande der hygienischen Verhältnisse und Wildpinkeln im Wald auch.

Dann folgt das obligatorische Gruppenbild vor der Kathedrale von León und bereits am nächsten Morgen um sechs Uhr geht es weiter durch eine Gegend, die stark an Hobbingen aus dem „Herr der Ringe“ erinnert. Anneke und ich haben ein gleiches Tempo gefunden und laufen gemeinsam. Schnatternd erzählen wir uns Geschichten aus unserem Leben oder schweigen uns an.

Horizonterweiterung auf 1500 Metern

Manchmal trennen wir uns, nur um spätestens in der nächsten Pause wieder zusammen zu treffen. Fast mit Lichtgeschwindigkeit erreichen wir Astorga, eine mittelalterlich anmutende Stadt in Asturien. Die Umgebung des Camino wird immer karger und am Horizont zeichnet sich eine Bergkette ab.

Meine Blasen haben zwischenzeitlich einen blauroten Farbton angenommen, dafür tun sie nicht mehr weh. Gleiches gilt für meine Achillessehne, die auf das doppelte ihrer ursprünglichen Dicke angeschwollen ist.

Die Spanier finden uns Pilger übrigens toll. Ständig wird man angesprochen, versteht kein Wort, lächelt nett und bekommt Obst geschenkt. Oder Wasser. Oder sie erzählen einem einen Schwank aus ihrem Leben. Glaube ich zumindest.

Die letzte Etappe führt uns über den Monte Irago, den höchsten Punkt des Jakobsweges. In dichtem Nebel suchen wir uns einen Weg über den schmalen Trampelpfad am Berghang, bis wir auf 1500 Höhenmetern das Cruz de Ferro, das Eiserne Kreuz erreichen. Pilger aus aller Welt legen hier Steine ab, die sie aus ihrer Heimat mitgebracht haben, als Symbol der eigenen Lasten, die sie ablegen.

Schlussspurt nach Santiago de Compostela

Uns zieht es weiter, Richtung Abstieg. Leider gesellt sich zum Nebel nun ein kühler Nieselregen, der bald zum Platzregen wird und die Schieferplatten in spiegelglatte Rutschbahnen abwärts verwandelt. Ich wechsle meinen Laufpartner und steige mit Michael ab. Irgendwann kommt mir der Gedanke, dass mich noch vor einer Woche keine zehn Pferde diesen Berg hinuntergebracht hätten – zumindest nicht auf dieser losen, glitschigen Geröllhalde.Und erst später erfahre ich, dass es diese Strecke ist, auf der die meisten Pilger sterben. Dennoch laufen wir sicher, schnell und nass bis auf die Knochen dem Tal entgegen.

Am Horizont taucht Ponferrada auf. Unser Ziel. Der Camino tut uns einen letzten Gefallen und die Wolkendecke reißt auf. Die wenigen Kilometer bis Ponferrada laufen wir im strahlenden Sonnenschein, diesmal als großer Pulk gemeinsam. Und dann ist sie plötzlich da, die Zielgerade. Jeder Schritt wird leichter, weil man es geschafft hat. Und gleichzeitig wird alles schwerer, denn ich will nicht, dass es vorbei ist.

Nach 250 Kilometern in acht Tagen haben wir den Endpunkt der Etappe erreicht. Von hier starten wir nächstes Jahr in die letzte Etappe bis Santiago de Compostela.

Artikelbilder: © Katrin Moser

Logbuch| Katrin Moser fühlte sich am Ende ihres Pilgerns glücklich, stolz und wehmütig zugleich. Und rief erst mal ihre Mutter an. Die hört ihr eine Weile schweigend zu. Schließlich meinte sie seufzend: „Weißt du, du klingst gerade wie Hape Kerkeling.“ Stimmt…

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Katrin Moser studierte Katholische Theologie in Münster. Sie arbeitet bei den Westfälischen Nachrichten, der Katholischen Fernseharbeit und dem Magazin des BDKJ Münsters. Wenn sie nicht gerade am Schreiben ist, ist sie auf Fototouren anzutreffen. Katrin hospitierte beim Ostfriesischen Kurier, der Katholischen Fernseharbeit und dem Stern...

6 Kommentare

  1. Da googelt man nur mal deinen Namen und stößt: darauf!

    Toll! Daran erinnere ich mich so gern zurück!

    Danke, dass du meinen Tag cersüßt hast.

  2. danke war eine eindrückliche schilderung – auch wir haben ein paar mal gelitten – haben die schweiz und diese jahr die ersten 350 kilometer durch frankreich durchpilgert….
    zum glück ist müdigkeit und schmerz schnell vergessen – dafür bleiben die wunderschönen eindrücke des weges… wir freuen uns auf nächstes jahr ab le puy – richtung spanien glg

  3. Sehr gut geschildert, entspricht der Wahrheit, so der Mensch wiederum zur Natur und vor allem seinen eigenen Körper zu spüren.
    Ich war mit meiner Partnerin unterwegs: 780 km zum Traualtar wunderbar.
    Ich sage nur buen camino, wir sehen uns am Jakobsweg hermann

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