China wandelt sich. Und damit auch so manche Klischees, die wir als Touristen mit dem Riesenland im fernen Osten verbinden. 6 Streifzüge von der Metrople Shanghai bis in die Flusstäler um Yangshuo…

Erste Station: Shanghai. Wir bauen für Sie

Von Chinas moderner Metropole Shanghai trägt der naive Tourist ein Bild im Herzen von sich majestätisch in den Himmel reckenden Wolkenkratzern, deren gläserne Fassaden den Sonnenschein spiegeln. Doch was sich arrogant ins Blau erheben soll, bleibt im Grau von Smog und Nebel stecken, wirkt mickrig und gestaucht.

Die enttäuschende Skyline am gegenüberliegenden Huangpu-Ufer ist durchzogen von Baukränen und Absperrungen. Neben der Promenade liegenden Gebäude der französischen Konzession langweilen durch ihren immergleichen Stil, ihre braune Farbe geht konturlos über in den Baustellendreck. Shanghai ist eine Baustelle.

„The Bund“, wie die Panorama-Uferpromenade heißt, ist derweil eine belebte Touristenmeile. Verkäufer stehen sich gegenseitig auf den Füßen, um Spielzeug, Schifffahrtstickets oder Fotosessions an den Mann zu bringen. In Shanghais großer Einkaufsstraße, der Nanjing Road, wuseln die Händler durch die Massen nebst Geschäften mit bunten, leuchtenden Reklamen und Schildern.

Am Abend geben wir Shanghai eine zweite Chance. Auf wundersame Weise wirken die Gebäude jetzt imposant. Der Hochhausdschungel Pudong zeichnet sich leuchtend und glamourös vor dem dunklen Nachthimmel ab. Plötzlich wirkt Shanghai edel, stilvoll, modern.

Shanghai ist hier und da auch einfach schön. Nach einem Spaziergang im Baustellenwald entdecken wir Yu Yuan, Shanghais restaurierten Garten. Dort finden wir Schönheit und ein klein wenig Ruhe. Dass wir auf dem Rückweg durch halb Shanghai laufen müssen, um an einer Baustelle vorbeizukommen, belegt dennoch wieder die These, dass diese Stadt für ihre Besucher und Bewohner mit Vorliebe baut.

Zweite Station: Sanya. Chinas Ballermann

Eingehüllt in tropische Wärme zeichnen sich unsere Silhouetten vor dem Nachthimmel ab. Ein Mann und eine Frau, Hand in Hand, Sand zwischen den Zehen, Wind im Haar. Mit sanftem Rauschen gleiten die Pazifikwellen ans Ufer, umspülen schüchtern unsere Fesseln und ziehen sich wieder zurück. Sterne kann man nur vereinzelt sehen. Als wolle er zwischen ihnen ein neongrünes Netz spinnen, huscht ein Laserstrahl über den Himmel.

Dann und wann fliegen ein paar Feuerwerkskörper mit lautem Knall in die Luft und streuen blaues, rotes und gelbes Licht in das Bild. Das Meeresrauschen kämpft derweil an gegen die penetranten Bässe, die von den Strandbars her die Geräuschkulisse verunstalten. Musik, deren deutsches Pendant sich vielleicht am Ballermann findet.

Ein Vergleich, der weit trägt. Denn Sanya in der Inselprovinz Hainan ist Chinas Touristenmekka. Ein Paradies für Urlauber und für Verkäufer, die ihren Ramsch verticken wollen. Die scheuen nicht einmal, ihre Kinder vorzuschicken. Wenn man’s vorher nicht kann, dann lernt man spätestens hier, einem Mädchen im rosa Kleid einen Korb zu geben.

Andere Touristenbelustigung wiederum lohnt sich. Dazu zählt ein Ausflug in den Regenwald. Dafür hat der Regenwaldmonopolist „Yanoda“ einen ganzen Haufen Guides in khakifarbene Overalls gesteckt und auf Urlauber abgerichtet. Die immer fröhlichen Guides können nämlich nicht nur gut erklären, worum es geht, sondern vor allem wahnsinnig gut winken: Mit der rechten Hand ein „Peace“-Zeichen formen, wild damit herumwedeln und dabei laut „Yanodaaaa“ rufen, sobald irgendein menschliches Wesen in Reichweite ist.

Der Hintergrund, auf dem sich dieses Disneyland-Verhalten abspielt, ist dabei durchaus bemerkenswert. Nebelverhangene, saftig grüne Hänge, perlenförmige Tropfen auf großen, grünen Blättern, Lianen, Kokospalmen und Bananenstauden: Regenwald wie aus dem Bilderbuch. Tropenromantik wird auf Hainan aber nie ohne eine Prise Merchandise serviert. Das zeigt sich vor allem in Sanyas Nachtleben.

Auf dem Markt ist bis in die späten Abendstunden Gewusel. Danach ziehen sich die Urlauber in Diskos und Karaokebars zurück. Am Strand fliegen viele Yuan in Form von Feuerwerk in die Luft. Mit Inbrunst lassen die Chinesen Lampions steigen, die es manchmal über den Berghang schaffen und dann aussehen wie Sterne, die aber auch manchmal in den ersten Sekunden Feuer fangen und ein paar Meter weiter zu Boden fallen. Die Traumkulisse von Meeresrauschen und Sternenhimmel gibt’s jedenfalls nie ohne wie auch immer geartete Berieselung.

Dritte Station: Guilin. Flottes Stillleben

Ein bisschen gespenstisch wirkt es, wie sich der Li Jiang durch die Berglandschaft schlängelt. Die Gipfel der Karstberge sind in dichten Nebel eingehüllt. Die Sonne kann sich kaum einen Weg durch den dicken Dunst bahnen. Auf dem Fluss paddeln in Zeitlupe einsame Kormoranfischer, die Wasseroberfläche nimmt davon kaum Notiz. Guilin hat eine schaurig-schöne Romantik, ist aber zugleich eine belebte, moderne Stadt, in der der Europäer längst keine Kuriosität mehr ist.

Die Rohrflöten-Tropfsteinhöhle ist ein Ort, an dem sich die pompöse, unheimliche Natur und der routinierte Umgang mit Touristen gleichermaßen offenbaren. Der Blick verliert sich in den Höhen der Höhle, verirrt sich zwischen den steinernen Skulpturen, die die Natur gezaubert hat. Mit touristenfreundlicher Illumination ausgestattet glitzern die Tropfsteine, die Höhle verwandelt sich in eine farbenprächtige Landschaft wie aus einem Gemälde. Aus der Höhle herausgetreten, erlaubt keiner der dicken Berge einen Blick auf die Stadt, man fühlt sich wie in einem Stillleben.

Auf den großen Hauptstraßen von Guilin geht dafür die Post ab. Zu beiden Seiten erheben sich große Einkaufsgebäude, die Reklamen bekannter Marken wie Nokia, Esprit oder KFC bleiben für kurze Momente im Augenwinkel hängen.

Aus der Berg-Perspektive bestätigt sich der Eindruck, den man auch von unten von Guilin gewinnt: Die Kreuzung aus modern und gespenstisch. Rundum erstreckt sich eine teils eintönige Stadt mit flachen Dächern, ein paar Mauern und Bäumen und Baustellen. Mittendrin erheben sich majestätisch einzelne Karstberge, der Li Jiang mogelt sich zwischen ihnen durch, und in der Ferne lässt sich hinter dem Dunst das famose Bergpanorama erahnen.

Vierte Station: Yangshuo. Im Abseits

Die Einwohner Yangshuos nehmen ihren Status als Touristenmagnet mit Humor: „We are not mentioned in the Lonely Planet, but I’m sure it’s a good place for you“, so wirbt ein Restaurant seine Gäste. In der West Street, dem Dreh-und Angelpunkt in Yangshuo, geht es einzig darum, wer die meisten Wessis für sich gewinnen kann. Hier reihen sich Restaurants, Bars, Essstände, Souvenirläden, Tuch- und Taschenverkäufer und Tibet-Silber-Händler aneinander. Ein Sträßchen mit Flair, in dem sich die Menschen aneinander reiben und im Schlendertempo durch die Gasse schieben. Sie endet am Fluss, wo Straßenmarkt und Bootstouren auf warten.

Eine Fahrt auf dem Li Jiang lohnt durchaus. Mit kleinen Motorbooten im Bambusrohr-Look geht es übers flache Wasser. Auf beiden Seiten erheben sich die Karstberge, auf dem Fluss begegnet man einer Herde Wasserbüffel, die durchs Wasser schwimmt, oder ein paar Kormoranen, die ein Päuschen machen, bevor sie wieder Fischen gehen müssen.

Um dem Trubel Yangshuos eine Zeit lang zu entfliehen, mieten wir uns für einen Spottpreis Fahrräder und fahren ziellos raus ins Grüne. Unmittelbar hinter Yangshuos dicht befahrenen Straßen startet das Landleben. Kleine Dörfer säumen unseren Weg, bis wir uns plötzlich inmitten des Karstgebirges wiederfinden, ein leicht diesiges, aber dennoch prächtiges 360 Grad-Panorama. Die Hügel zu betrachten, ist wie Figuren aus Wolken herauszudeuten: Mal sieht ein Berg aus wie ein dickes Nashorn, mal wie ein schlafender Drache.

Als i-Tüpfelchen der Tour halten wir in einem der kleinen Dörfer an und essen dort zu Abend. Es ist klares Kontrastprogramm zu Yangshuo, wo man unser Geld will uns uns dafür „Western Food“ serviert. Hier essen wir eine gute chinesische Nudelsuppe, sitzen auf kleinen Holzhockern im Freien, und die Menschen freuen sich ehrlich über ihre ausländischen Gäste. Bei allem Spaß, den das Touristenstädtchen Yangshuo macht, kann es das Herz nicht so berühren wie die original chinesische Freundlichkeit.

Fünfte Station: Fenghuang. Depressionen

Wenn man Depression in Stein und Holz fassen kann, dann ist Fenghuang die Verwirklichung dieses Projekts. Dabei hat das Städtchen in der chinesischen Provinz Hunan eine hübsche Fassade: Kleine, filigrane Häuser im alten Stil, urige und ausgefallene Brücken; entlang der kleinen, verwinkelten Gassen säumen rote Lampions den Weg. Und doch: Der Februar liegt wie eine schwere Bürde auf der Stadt, lässt die Gassen kalt und die Hauseingänge bedrückend wirken. Der Fluss gleicht einem Jammertal, und wenn der Regen auf die Haut fällt, meint man, dass der Himmel weint.

Die Kälte peitscht durch in jeden Winkel der Stadt. Kein Haus, kein Restaurant, keine Bar, ja, nicht einmal das Hostel hat geschlossene Türen. Selbst auf dem Zimmer ist es nur mit mehreren Kleidungsschichten und unter der Bettdecke auszuhalten. Der Kälte ist nicht zu entkommen, sie hat jeden Ansatz von Gemütlichkeit aus der Stadt vertrieben. Auf den Wegen haben sich Dreck und Regen zu einer omnipräsenten Pampe vereint. In einer Vorstraße der Altstadt robbt ein Bettler über den Bürgersteig, in dünne Lumpen gehüllt, die Beine verkrüppelt. Diese Stadt macht, dass man sich schlecht fühlt, und gibt einem ausreichend Gelegenheit, es auch zu sein.

Ein Dorf der Miao, einer Minderheit, zu dem wir einen Ausflug unternehmen, ist der Superlativ aller schlechten Dinge, die man über Fenghuang sagen kann: Die Kälte ist noch unbarmherziger, die Häuser noch schlechter isoliert. Eine Familie sitzt um ein Feuer herum, darunter Kinder und ein Baby, das man kaum erkennt, weil es so dick in Jacken eingepackt ist. Die Luft ist schlecht, weil der Qualm kaum abziehen kann und Fleisch über dem Feuer geräuchert wird. In den Gassen sammelt sich der Matsch, in manchen Ecken riecht es nach Exkrementen. Im Dorf gibt es eine Schule, die allerdings nur zwei Jahre lang unterrichtet. Danach geht kaum ein Miao-Kind aus diesem Dorf auf eine weiterführende Schule. Der Ort ist so trüb, so hoffnungslos. Die Vorführung der Miao von Tanz und Gesang zur Touristenbelustigung wirkt vor diesem Hintergrund fast zynisch.

Und das ist die Ironie Fenghuangs: In einer Stadt, die uns deprimiert, haben wir an einem Abend die beste Party unserer Reise. Livemusik lockt uns in eine Bar am Flussufer. Eine Horde Frauen feiert dort lautstark den „Women’s Day“, wie wir nach einigen Bemühungen in Erfahrung bringen. Nach kurzer Zeit entdecken sie unser europäisches Aussehen als Fotomotiv. Wenig später finden wir uns mitten in der Gruppe wieder, trinken Bier, bejubeln die Mutigen, die Karaoke singen, knacken Sonnenblumenkerne und tanzen. Es ist ein lustiger Abend, etwa in dem Maße lustig, wie die Stadt an sich deprimierend ist.

Sechste Station: Beijing. Hauptstadt

In Beijing verstecken sich die Sehenswürdigkeiten hinter anderen Sehenswürdigkeiten.

Zumindest versteckt sich der Sommerpalast. Und das ist ja immerhin eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten Beijings! Es liegt wohl daran, dass wir drei Busstationen zu früh ausgestiegen sind. So verschlägt es uns erst auf einen gemütlichen Markt und anschließend in den Park der Universität, der durchaus als Sommerpalast hätte durchgehen können: Eine weitläufige Anlage, romantische Seen, hier ein üppig verziertes China-Dach und da eine Pagode.

Nur einen Ausgang, den gibt es nicht. In kurzen Momenten der Unachtsamkeit glaubt man sich bereits an der großen Mauer, weil eine solche den gesamten Park begrenzt und wir tapfer bis zum Eingang zurück laufen müssen, um irgendwie wieder herauszukommen. Auf der richtigen Fährte wissen wir uns, sobald sich Busse und Touristenmassen häufen. Doch zwischen all denen hindurch können wir durchaus lohnenswerte Blicke auf den Palast und die pompöse Pagode am Berghang erhaschen. Der See verliert sich im Grau, im Nebel erkennt man viele, kleine Punkte auf den vielen, kleinen Brücken: 1,3 Milliarden Chinesen, und alle an diesem Tag im Sommerpalast!

Den Bus 919 gibt es doch!

Um zur großen Mauer zu kommen, suchen wir den Linienbus 919. Da steht er. Aber, so heißt es, der nicht. Auch von den fünf 919-Bussen, die dahinter stehen, keiner. O-Ton eines Bus-Fähnchenhalters: „Es gibt keinen Bus 919.“ Was irgendwie eine alberne Behauptung ist angesichts der vielen Neunen und Einsen, die sich hier hinter den Windschutzscheiben tummeln.

Ein anderer meint, wir sollen morgen wiederkommen, noch welche sagen, wir sollen doch ihr Taxi für ein kleines Vermögen mieten, und nur eine hat einen sinnvollen Tipp: Dreihundert Meter weiter gehen. Da ist das Nest aller 919-Busse, und da finden wir auch einen, der uns zur Mauer bringt.

Behauptung: Große Mauer gibt’s nur für große Anstrengung.

Wir fahren also zur großen Mauer. Rechts geht es gemächlich bergauf, wer linksrum geht, verschreibt sich einer Kletterpartie. Wir gehen linksrum – und haben die Mauer für uns. Da empfiehlt der Reiseführer, nicht auf ein „Die Mauer und ich“-Erlebnis zu hoffen – wir haben eines. Wir haben Strecken zum Rennen, zum Fotografieren, zum Stehenbleiben und Durchatmen – wir haben allerdings auch Postkarten- und T-Shirt-Verkäufer für uns.

In den ruhigen Momenten, in denen wir unsere Dreisamkeit mit der Mauer genießen, können wir auch zur anderen Seite blicken: Bevölkert mit Menschen, die dicht voreinander und nebeneinander her laufen. Was lernen wir daraus? Die anstrengende Kletterei lohnt sich.

Wessi bleibt Wessi bleibt Wessi.

Dank eines spontanen und ziellosen Aussteigens aus der U-Bahn verschlägt es uns ins Botschafts-Viertel. Wo zieht es uns Wessis magisch hin? Nein, nicht zu Starbucks. Der ist gegenüber. Wir gehen zu Häagen Dazs und pfeifen uns noblen Cappuccino und jeder einen üppigen Eisbecher rein. Dass wir Wessis sind, bekommen wir außerdem während eines Souvenir-Shoppings zu spüren.

Denn der Wessi ist ja reich und dumm, denkt sich die Verkäuferin, bei der wir Essstäbchen kaufen wollen. Eine Packung zehn Yuan, sagt sie. Wir wollen zwei. Macht vierzig. Finde den Fehler!

Artikelbilder: © Denise Müller

Logbuch| Denise Müller beschreibt ihre Reise als eindrucksvoll und so lehrreich wie kaum eine andere, nach China. Und trotzdem: Da ist man wochenlang unterwegs und kann doch nur einen Bruchteil des riesigen Landes sehen. Es gibt also noch viel zu entdecken im Reich der Mitte…

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Denise Müller ist ausgebildete Journalistin. Privates, wissenschaftliches und journalistisches Interesse. Am besten die Kombination dieser drei Dinge, sie treibt Denise Müller zum Reisen an. Immer wieder! Dabei fasziniert sie das völlig Fremde wie China, Suriname, Indonesien oder Singapur. Aber auch das gute alte Europa. Trotz allen Fernwehs: Sie kehrt sie immer gerne nach Hause zurück...

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