St. Moritz steht für Dekadenz: Rennen mit Hunden und Pferden, Polospiel auf dem zugefrorenen See, Pelzmäntel und Pradabrillen. Das Waldhaus am See stellt sich gegen dieses Klischee, dem fast schon perversen Luxus. Ein Hausbesuch…

So etwas gab es selbst im Hotel „Waldhaus am See“ noch nie: Nachts um halb drei fuhr der Postbus vor, 43 Mitarbeiter samt Chef stiegen ein und entschwanden zum Zürcher Flughafen. Mitten in der Hochsaison verließen sie ihr ausgebuchtes Hotel auf einen 44-stündigen Betriebsausflug.

Wochen vorher hatten sie alle vom Chef die Einladung bekommen: Mit British Airways Flug 709 nach London, Übernachtung im Vier-Sterne-Hotel „Royal Horseguards“, Besuch des Musicals „Starlight Express“. Für Vlado Sarevic, Bernasconis rechte Hand, war es der erste Flug seines Lebens.

In der Zwischenzeit leitete Leo Utelli das Waldhaus, der evangelische Pfarrer im Ort. „In Gottes Händen ist mein Hotel gut aufgehoben“, sagte ihm Bernasconi noch vor der Abreise, während er wie so oft komplizenhaft seine Augenbraunen hochzog.

Der Gastgeber mit dem Wohlstandsbäuchlein mag es, Vertrauen zu schenken. Und wenn es sein muss, eben auch dem Pfarrer, dem Gemüsehändler, dem Steuerberater und weiteren St. Moritzern, die freiwillig anrückten, um die Hotelgäste zu bewirten.

Kreativster Kopf der Schweizer Hotellerie

Die Geschichte ist elf Jahre alt und geisterte damals durch Medien in aller Welt. Spätestens seither gilt Bernasconi, geschieden, drei Söhne, als einer der findigsten, kreativsten Köpfe der Schweizer Hotellerie. Schon kurz nach seiner Ausbildung zum Koch pachtete er kleinere Zwei-Sterne-Häuser im Kanton Graubünden, 1983 übernahm er das marode „Waldhaus am See“.

Ein Spekulant wollte für drei Millionen kaufen, Bernasconi bekam keinen Kredit, überredete die Besitzer zu einem langjährigen Pachtvertrag. Heute überweist der gebürtige Tessiner dem Eigentümer 750.000 Franken pro Jahr. Und beschäftigt 78 Mitarbeiter ganzjährig, meist zu übertariflichen Bezügen.

Obwohl ins Engadin aus Zürich eingewandert, schaffte es Bernasconi ins Amt des Vize-Bürgermeisters, später auch in den Vorstand der Kirchengemeinde. Dort wagte er es sogar, einen Pfarrer rauszuschmeißen. Bernasconi hatte ihn zu oft dabei beobachtet, wie er beim Polospiel mit der High Society kokettierte und Ex-Tennisprofi Boris Becker für einige tausend Franken traute, statt sich um die Seelen der Einheimischen zu kümmern.

Zum Beispiel um die Einsamen, die Bernasconi alljährlich zum Weihnachtsessen ins Waldhaus einlädt. Gemeinsam mit Küchenchef Hans Bundi überlegt sich der Hotelier schon Wochen vorher das Fünf-Gänge-Menü für diesen Anlass.

Nussparfait mit James Bond

2011 wird es Lachsröllchen geben. Nach einer Minestrone folgen Trüffelravioli. Als Hauptgang werden die Kellner Schweinsfilet mit Dampfkartoffeln servieren. Zum Nachtisch ein Nussparfait, der Klassiker im Waldhaus. Auch Prominente wie Roger Moore und König Gustav von Schweden haben dieses Dessert hier schon genossen.

Als Wein wird Bernasconi Trimmiser Blauburgunder kredenzen, einen leichten Landwein. Oder „Riserva La Scala“ aus dem Veltlin. „Er lebt, was er liebt“, sagt Martin Berthod, Kurdirektor im Ort, und nennt ihn einen „Gewinn für St. Moritz“.

Rund zehn Millionen Franken hat Bernasconi in den Umbau des Waldhauses investiert, von der Herberge zum mehrfach als bestes Drei-Sterne-Hotel der Schweiz gekürten Betrieb.

Bernasconi hat diese und andere Urkunden im Eingangsbereich eingerahmt, zwischen Whiskyflaschen und Souvenirs. Heute setzt er fünfzehn Mal so viel um wie zu Beginn seiner Tätigkeit, sechs Millionen Franken im Jahr. Eine Million davon geben Einheimische in seinem Restaurant aus.

2500 Sorten Hochprozentiges

Sie schätzen die Wohnzimmer-Atmosphäre, den unverbauten Blick auf den See, die 57seitige Whiskykarte und die größte Bar mit 2500 Sorten, die er auf seinen Weltreisen zusammengetragen hat.

Auch die Gäste des Restaurants wundern sich manchmal über die dreidimensionale Afrika-Sparkasse aus Lärchenholz an der Rezeption. Vielleicht werfen sie wie die Hotelgäste ein paar Münzen hinein, um Bernasconi zu helfen, ein Versprechen zu halten, das er vor Jahren gegeben hat: Ein Franken pro Nächtigung geht an seine Stiftung in Sao Tome, einem Inselstaat am Äquator, einige hundert Kilometer vor der Küste Gabuns.

Ein befreundeter Arzt, Gian Meyer, brachte ihn auf die Idee. Meyer hatte genug von der Schickeria des Jetsets und von seiner Praxis in St. Moritz. Heute behandelt er Krankheiten wie die Cholera, die während des ersten Besuchs von Bernasconi auf dem Archipel ausbrach.

Sechs Schulen und einige Kindergärten ließ Bernasconi in Sao Tome bauen, Schritt für Schritt, oft mit Hilfe seiner Engadiner Freunde. So baute ein örtlicher Schreiner eine besonders robuste Sitzbank für Bernasconis Stiftung. Das Modell „Zangger“, sonst auch an Häuser der Fünf-Sterne-Kategorie verkauft, steht nun in fast allen Schulen Sao Tomes.

„Nicht der harte Typ“

Längst macht sich Bernasconi, 57 Jahre alt, Gedanken über seine Nachfolge im Hotel „Waldhaus am See“. Sein erster Gedanke galt Vlado Sarcevic, der nur wenige Jahre nach Bernasconi ins Hotel kam und einst beim Betriebsausflug nach London erstmals in seinem Leben geflogen war. Mehrere Male sprach der Hoteldirektor mit Sarcevic über die mögliche Nachfolge, besuchte ihn sogar in dessen Heimat in Bosnien-Herzegowina.

Doch Vlado Sarcevic wollte kein Chef werden. „Ich liebe meinen Job, arbeite gerne mit Menschen“, sagt er, aber Hierarchie sei nicht seine Sache. Er sei „nicht der harte Typ“ und wolle lieber Mitarbeiter bleiben, „Vize-Kellner“, wie er sagt, „zweite Reihe“.

Weshalb nun Bernasconis ältester Sohn Sandro, die Geschäfte übernehmen wird. 26 Jahre alt, hat er kürzlich sein Wirtschaftsstudium in St. Gallen abgeschlossen. Und Vlado? Der freut sich schon auf seinen neuen Chef.

Logbuch| Jan Thomas Otte recherchierte eine Woche rund um das „Waldhaus am See“. Gerne wäre er noch zum „White Turf“ um Weihnachten geblieben, wenn vor allem reiche Russen den als mondän geltenden Kurdorf bevölkern…

Artikelbilder: © Jan Thomas Otte

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Jan Thomas Otte liest gerne "mare", das Print-Magazin. Online surft er lieber auf "admirado". Otte lebte 3 Monate in der Nähe von Manchester, 6 Monate in Jerusalem, 9 Monate bei New York. Wegen seinem Reisefieber verbrachte er auch einige Wochen an anderen schönen Flecken der Erde, auf der Südhalbkugel: Neuseeland, Südamerika und Südostasien. Als Journalist mit Reisefieber engagiert er sich bei Constart, einem Netzwerk für Korrespondenten. 2010 gründete er das Online-Magazin "Karriere-Einsichten". Und ist in den letzten 10 Jahren ebenso 10 mal umgezogen...

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