Suriname, ein von Deutschland kaum wahrgenommes Land an der Nordostküste Südamerikas, hat alle Anlagen für einen florierenden Tourismus: Unberührten Regenwald, Artenvielfalt und Kolonialarchitektur in der Hauptstadt. Doch die ehemals niederländische Kolonie steht noch vor einer Reihe von eigenen Herausforderungen, denen sie sich stellen muss. Deren Bewältigung könnte sie stark machen für die anrollende Flutwelle westlicher Kultur…

Sonntags ist Paramaribo wie ausgestorben. Die Sonne brütet über der Stadt, einzelne Bäume werfen kaum Schatten. Auf den Veranden der Holzhäuser sieht man meist nur leere Hängematten, die wenigen verbliebenen Autos stehen still. An der Waterkant, direkt am Suriname-Fluss unter geringfügigen Schutz bietenden Palmen, sitzen zwei Männer bei einem Parbo-Bier und schweigen sich an. Die Hitze lähmt alles, auch die Gespräche.

Die Hauptstadt des südamerikanischen Surinames wirkt an diesem Tag wie die Kulisse eines Wildwest-Films. Ihre Bewohner sind aufs Land geflüchtet, nutzen den Tag für einen Ausflug. Einzig eine Handvoll Touristen, zumeist Niederländer, wagt den Aufbruch zum Spaziergang durch die Straßen mit ihren wunderschönen Kolonialbauten, UNESCO-Weltkulturerbe, versteht sich.

Kulturelles Patchwork

Unter der Woche äußert sich der wilde Westen in ganz anderer Weise. Seine Erscheinungsformen sind Fast Food-Filialen und Coffee-Ketten, Kasinos und amerikanische Kinofilme, Birchermüesli und niederländischer Importkäse.

Dabei hätte Suriname die Einfuhr westlicher Kultur dank seiner eigenen Vielfalt gar nicht nötig. In der ehemaligen niederländischen Kolonie leben Menschen indigener, indischer, indonesischer, afrikanischer und chinesischer Abstammung und alle denkbaren Mischungen davon.

Dort leben Menschen christlichen und jüdischen Glaubens, Muslime, Hindus und Anhänger von Naturreligionen friedlich zusammen. In der Kaizerstraat im Herzen Paramaribos stehen Moschee und Synagoge Tür an Tür. Auf den Speisekarten der Restaurants und Imbisse findet man alles von Chop Suey über Roti bis Maniok. In Paramaribo kann man kulinarisch um die Welt reisen.

Die Republik Suriname, ein von Deutschland kaum wahrgenommener Fleck Erde, ist das kleinste unabhängige Land in Südamerika. Von den rund 490 000 Einwohnern wohnt mehr als die Hälfte in der Hauptstadt Paramaribo. Achtzig Prozent des Landes sind tropischer Regenwald; dort leben indigene Stämme und Maroons, die Nachfahren geflüchteter afrikanischer Sklaven. Das Gros der Bevölkerung hält sich im Küstenstreifen auf – dort sind die Straßen asphaltiert, Kinder können zur Schule gehen, junge Erwachsene zur Uni.

Goldrausch gegen Indianer

Leon Wijngaarde ist Arawak-Indianer und lebt mit seiner Familie in Paramaribo. Er fährt einen Jeep, sein 12 Jahre alter Sohn spricht fließend Englisch. Wijngaarde weiß, dass das Privilegien der Städter sind. Im Hinterland ist es schwieriger. Dorthin kommt man nur per Einbaumboot und mit kleinen Flugzeugen, für die die Tickets teuer sind und die nicht unbedingt dem europäischen Bequemlichkeit-Standard entsprechen.

Ein großes Problem der Indianer im Hinterland ist der Goldrausch. In- und ausländische Firmen, illegale Goldsucher aus dem Nachbarland Brasilien und die Maroons graben für das gut bezahlte Edelmetall den Regenwald des ressourcenreichen Landes um – zum Leidwesen der dort lebenden indigenen Stämme. Die machen sich aus Gold nichts. „Sie wissen, dass sie auf Gold schlafen, aber es interessiert sie nicht.

Sie wollen in Frieden mit Mutter Natur leben“, sagt Wijngaarde. Doch die Regierung hat den illegalen Einwanderern im schwer zugänglichen Dschungel und der Umweltverschmutzung durch den Goldabbau wenig entgegenzusetzen. „Im Hinterland geht es zu wie im Wilden Westen“, sagt Wijngaarde.

Bewegte Geschichte

Das Geschäft mit den Ressourcen Gold, Öl und Bauxit ist Surinames wirtschaftlicher Motor; macht es doch 85 Prozent des Exporterlöses aus. „Ich möchte einen gewissen Wohlstand in meinem Land sehen, denn wir haben viel gelitten“, sagt John Courtar vom Arbeitsministerium. Er spielt an auf Surinames bewegte Geschichte. Schon der französische Schriftsteller Voltaire dokumentierte in seinem „Candide“ die grausamen Umstände der Sklavenhaltung durch die Niederländer im 18. Jahrhundert.

Nach der Unabhängigkeit 1975 dauerte es nur fünf Jahre, bis Desiré Bouterse durch einen Militärputsch an die Macht kam. Es solle nie wieder eine parlamentarische Demokratie geben, zitierte der Spiegel den Oberstleutnant in einem Artikel vom Januar 1983.

1986 bis 1992 litt das Land unter einem Bürgerkrieg. 1987 wurden die demokratischen Strukturen wiederhergestellt, die Zeit Bouterses als Militärdiktator war beendet. Heute ist der unverwüstliche Bouterse demokratisch gewählter Präsident von Suriname, seine Partei erreichte 2010 eine Mehrheit.

Im Ausland wird diese wundersame Metamorphose argwöhnisch betrachtet. Doch viele Surinamer glauben daran. „Die Leute sagen immer, Bouterse war dies, Bouterse war das. Aber sie müssen sehen, was er jetzt ist“, gibt ein Arawak-Indianer zu bedenken. Er trägt eine Militärmütze und eine hellbraune Weste über dem nackten Oberkörper und tippt sich an den Kopf, als er sagt: „Er ist ein Mann mit eisernem Verstand“, und ein anderer mit Halbglatze bestätigt: „Er ist für diese Zeit der richtige Mann.“

Präsident steht vor Gericht

Dass dem Westen beim Anblick des neuen Präsidenten etwas flau im Magen ist, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Bouterses Rolle im Zusammenhang mit den Dezembermorden von 1982 noch unklar ist. Damals kamen 15 Gegner der Militärregierung, darunter Journalisten und Anwälte, ums Leben. Sie wurden auf der Flucht erschossen – das ist zumindest die Version des Militärregimes.

Andere sprechen von Exekution. Surinames Häuptling muss sich derzeit vor Gericht verantworten. Die Einsetzung der zuständigen Richter obliegt als Staatsoberhaupt ihm. Ein Luxus, den er nicht ungenutzt ließ, wie Radio Niederlande im Juni berichtete.

Im Fort Zeelandia, neben dem Präsidentenpalast und der Kolonialarchitektur die touristische Hauptattraktion in Paramaribo, steht eine Gedenktafel mit den Namen der damals Getöteten. Ein Aufseher, der halb aus Gastfreundschaft, halb aus Langeweile Touristen durch das Fort begleitet, zeigt auf die Einschusslöcher, die in der Steinmauer zurückgeblieben sind.

Dann schlurft er zurück zu seinem Lehnstuhl und verlegt sich auf Small-Talk mit den Besuchern. Als ob er sicher gehen wollte, dass sie ihn auch richtig verstehen, wiederholt er jeden Satz ein zweites Mal und zieht dabei die Mundwinkel weit auseinander, sodass zwei weiße Zahnreihen zum Vorschein kommen.

Als er ein wenig in Fahrt gekommen ist, hält er, selbst Oktobergeborener, einen Vortrag über die Wesenszüge von Oktobergeborenen: Es seien schlaue, nette Menschen, aber wenn man sie einmal verliere, gewinne man sie nicht wieder. „Fang keinen Streit mit ihnen an“, mahnt er. Bouterses Geburtstag ist am 13. Oktober. Ob das auch für ihn gilt?

Zeit mitbringen

Vom Fort Zeelandia aus sind es bis zur Bushaltestelle rund zehn Minuten zu Fuß in praller Sonne. Fahrpläne gibt es nicht. Die 20-Mann-Minibusse fahren erst los, wenn sie voll sind. Das kann an einem Sonntag schon mal eine Weile dauern. Man muss Zeit mitbringen in Suriname. Die westliche Hektik passt einfach nicht hierher. Wenn man sich drauf einlässt, ist das wunderbar erholsam.

BBC schreibt, Suriname habe ein großes Potential für Tourismus: Unberührter Regenwald, Artenvielfalt und Kolonialstil in der Hauptstadt. Doch John Courtar macht sich Sorgen, dass der Tourismus zu Lasten von Surinames Identität gehen, dass eine Welle westlicher Kultur das kleine Land fluten könnte.

Vielleicht ist es dafür noch zu früh, nicht einmal zwanzig Jahre nach Ende des Bürgerkriegs. Vielleicht muss sich Suriname erst einmal seinen eigenen Herausforderungen stellen, bevor es sich die des westlichen Kapitalismus aufbürdet. Vielleicht ist Surinames Demokratie noch zu jung, um den alten wilden Westen gegen einen neuen einzutauschen.

Artikelbilder: © Denise Müller

Logbuch| Denise Müller freut sich nach ihren Reisen immer auch auf zuhause, eigentlich. Der Abschied vom paradiesischen Suriname fiel ihr allerdings ungewöhnlich schwer. Auf ihren nächsten Besuch bereitet sie sich durch einen Niederländischkurs vor…

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Denise Müller ist ausgebildete Journalistin. Privates, wissenschaftliches und journalistisches Interesse. Am besten die Kombination dieser drei Dinge, sie treibt Denise Müller zum Reisen an. Immer wieder! Dabei fasziniert sie das völlig Fremde wie China, Suriname, Indonesien oder Singapur. Aber auch das gute alte Europa. Trotz allen Fernwehs: Sie kehrt sie immer gerne nach Hause zurück...

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